Am 18. Oktober 1963 hielt der frisch gewählte Bundeskanzler Ludwig Erhard (CDU), der zuvor Wirtschaftsminister in der Regierung Adenauer war und als Vater der Sozialen Marktwirtschaft gilt, seine Regierungserklärung im Deutschen Bundestag. In dieser ging er auch auf die Agrarpolitik ein. Die Rede ist zwar mittlerweile 57 Jahre her, doch einige Punkte sind durchaus auch heute noch brisant:
(…) Eine erfolgreiche Lösung der agrarpolitischen Fragen liegt mir besonders am Herzen, denn wir alle verkennen nicht die Bedeutung, die der Agrarpolitik und ihrer Fortentwicklung unter veränderten Umweltbedingungen zukommt. Niemand soll an meinem guten Willen und an dem festen Entschluss zweifeln dürfen, alles Zweckmäßige zu unternehmen, um ein lebenskräftiges deutsches Bauerntum zu erhalten und die in ihm tätigen Menschen von der Unruhe und Unsicherheit zu befreien, dass es für sie keine gesicherte und glückliche Zukunft geben könne.
Die nach dem Kriege von der deutschen Landwirtschaft erbrachten Leistungen können sich auch im internationalen Vergleich sehen lassen. Sie berechtigen zur Zuversicht und sollen auch die Landwirtschaft in dem Glauben an die eigene Kraft stärken. Es wird und muss durch eine positive Agrarpolitik auch in einer engen zusammenrückenden Welt gelingen, die Agrarwirtschaft immer organischer in die deutsche Volkswirtschaft einzufügen. Wenn auch die Landwirtschaft ihre eigenen Gesetze kennt, so muss doch die Agrarpolitik als Teil der allgemeinen Wirtschaftspolitik verstanden werden. Damit bringe ich zum Ausdruck, dass an einer Erhaltung und Festigung der Landwirtschaft nicht allein die bäuerliche Bevölkerung interessiert ist, sondern dass auch alle anderen Volksschichten und Berufsgruppen Verständnis für die Landwirtschaft bezeugen sollten.
Die europäische Agrarpolitik stellt uns zweifellos vor schwierige Fragen der Anpassung und Umstellung. Wir alle sind uns dabei einig, dass es die deutsche Landwirtschaft als Ansatzpunkt einer allgemein gültigen Agrarpolitik nicht gibt, dass vielmehr aus unterschiedlichsten Ursachen differenzierte Mittel und Methoden Platz greifen müssen. Die Aufgabenstellung ist aber im großen dennoch zu umreißen: Die moderne Wirtschaft mit ihrem hohen Mechanisierungs- und Technisierungsgrad, vor allem auch mit dem hohen Preis, den sie für die menschliche Arbeitskraft zu zahlen gewillt und in der Lage ist, verlangt von der ursprünglich nahezu ausschließlich arbeitsintensiven Landwirtschaft eine tiefgreifende Umstellung.
Der Umstand, dass die Verbraucher sich von dem Verzehr von Grundnahrungsmitteln, wie z.B. Getreideerzeugnissen, zunehmend höherwertigen Nahrungsmitteln zuwenden, zwingt die deutsche Landwirtschaft, wenn sie für die Zukunft ihr Einkommen verbessern will, der Veredlungswirtschaft noch höhere Bedeutung beizumessen. Eine moderne Agrarpolitik wird sich aus den vorerwähnten Gründen um eine immer stärkere Differenzierung und Variierung des Angebots wie auch um eine organische Verbindung von Produktion und Markt zu bekümmern haben. Die bäuerliche Bevölkerung weiß sehr wohl, dass die Absatzmöglichkeiten für Veredlungsprodukte und hochwertige landwirtschaftliche Erzeugnisse wesentlich von der Mehrung des allgemeinen Wohlstandes abhängen, der seinerseits wieder die enge Verflechtung mit der Weltwirtschaft zur Voraussetzung hat. Damit wird sich für die kommende Zeit die Agrarpolitik mit Spezialfragen zu befassen haben, deren Bedeutung offen zutage liegt.
Wenn ich in Verbindung mit der europäischen Agrarpolitik das Problem des deutschen Getreidepreises berühre, so möchte ich dazu erklären, dass der derzeitige Preis nach Maßgabe der nicht zuletzt durch die Struktur der Betriebe bedingten Kostenverhältnisse und der Ertragslage der Landwirtschaft im allgemeinen zu Beanstandungen keinen Anlass gibt und deshalb mit gutem Gewissen vertreten werden kann. Gleichwohl ist bekannt genug, dass diese Frage innerhalb der Europäischen Gemeinschaft noch vor Beginn der Kennedy-Runde zur Erörterung ansteht. Die deutsche Landwirtschaft kann davon überzeugt sein, dass ich bei diesen Verhandlungen ein fairer Sachwalter auch der Interessen der deutschen Landwirtschaft sein werde. Bei der Bewältigung der von mir skizzierten Aufgaben und Probleme wird die Bundesregierung der Landwirtschaft entschlossen zur Seite stehen. Sie wird die Mittel des Grünen Plans konsequent für eine Gesundung der Landwirtschaft wie für die Stärkung ihrer Wettbewerbsfähigkeit einsetzen.
Die Steigerung der Arbeitsproduktivität im Betrieb selbst und seine rationelle Verbindung zum Markt bleiben eine ständige Aufgabe. Die Bundesregierung wird nicht nur die von Bundespräsident Lübke seinerzeit so erfolgreich begonnenen Agrarstrukturmaßnahmen fortsetzen. Darüber hinaus wird sie die Möglichkeiten für technisch, betriebs- und marktwirtschaftlich sinnvolle Investitionen in den einzelnen Betrieben verbessern und beim Ausbau geeigneter Produktions- und Verarbeitungsmaßnahmen Hilfen gewähren. Die Verwirklichung solcher Vorstellungen erfordert, wie sich die Bundesregierung bewusst ist, einen großen Kapitalaufwand. Sie wird diese Probleme sorgfältig prüfen und dabei auch die Frage der Zinsbelastung nicht außer Acht lassen. Soweit Betriebe nicht existenzfähig sind, sollen sie zu Voll-Erwerbsbetrieben aufgestockt werden oder sollten zu ihrem eigenen Vorteil ihre Flächen zur Aufstockung anderer Betriebe zur Verfügung stellen. Dabei sind finanzielle Anreize mannigfacher Art zu entwickeln. Hierzu gehört auch die Intensivierung der regionalen Wirtschaftspolitik, die der Existenzsicherung der von dem Strukturwandel berührten, bäuerlichen Bevölkerung dienen soll.
Nicht minder wichtig ist, den Bildungs- und Erziehungseinrichtungen auf dem Lande größeres Augenmerk zuzuwenden. Auf diesem Gebiet scheinen mir Reformen dringend geboten zu sein. Aus soziologischen Gründen ist es ferner bedeutsam, dass die Erhaltung des ländlichen Wohneigentums einer weiteren Abwanderung aus manchen ohnedies dünnbesiedelten Gebieten vorzubeugen hat. Eine fantasievolle und aufgeschlossene Agrarpolitik hat den bäuerlichen Familienbetrieb in den Mittelpunkt zu stellen. Sie soll dem Bauern für die Gegenwart und die Zukunft wieder Mut und Sicherheit geben. (…)

B.Sc. Agrarwissenschaften (BOKU Wien)
M.Sc. Agrarwissenschaften – Agrarökonomie & Agribusiness (TU München)